Man sagt, es sei das Schlimmste, was einem widerfahren könne, wenn ein Kind sterbe - stimmt das?
Kathrin Schreier: Das glaube ich auch. Sein Kind hergeben zu müssen ist mit keinem anderen Verlust im Leben vergleichbar. Das ist ein Ereignis, was das eigene Leben in allem erschüttert, kein Stein ist mehr auf dem anderen. Die ganze Familie ist zutiefst, manchmal sogar lebensbedrohlich verwundet. Der Tod eines Kindes ist ein Abschied zu einer völlig falschen Zeit, es ist mit keinem anderen Todesfall vergleichbar. Einen anderen Menschen verliert man, im Bild gesprochen, von seiner Seite. Aber ein Kind verliert man aus sich heraus, direkt aus dem Herzen.
Macht es einen Unterschied, wie alt das Kind war oder woran es gestorben ist?
K. Schreier: Das spielt keine Rolle. Menschen, die das nicht erleiden mussten, glauben das manchmal, aber aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass das nicht stimmt. Jedem dieser Betroffenen ist das absolut Schlimmste widerfahren. Egal in welchem Alter oder auf welche Weise - alle haben ihr Kind verloren, das Liebste und das Wichtigste in ihrem Leben. So geht es Eltern, deren Kind in der Schwangerschaft stirbt, und so geht es Eltern, deren Kind im Erwachsenenalter stirbt.
Welche Gefühle toben in frisch verwaisten Eltern?
K. Schreier: Wenn man Traurigkeit potenzieren kann, ist es genau das Gefühl. Und eine absolute Leere. Dazu Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, denn Eltern geht mit dem Tod ihres Kindes ja oft der Lebenssinn verloren. Sie haben die Zukunft mit ihrem Kind verloren. Dazu kommen Schuldgefühle: «Ich konnte nichts tun für mein Kind. » Alle Gefühle haben ihre Berechtigung, auch Wut und Neid. Bei aller Verletztheit, bei allem Chaos spielt aber immer auch die Liebe eine ganz wichtige Rolle. Die Liebe geht den Eltern ja nie verloren. Sie wird durch den Tod sogar noch mal stärker spürbar. Auch gute Gefühle wieder fühlen zu dürfen, müssen sich die Eltern erst wieder erlauben lernen - das braucht Zeit. Im Laufe der Jahre bahnt sich auch Dankbarkeit wieder ihren Weg, wenn Eltern auf all das Schöne zurückblicken, was sie mit ihrem Kind hatten.
Gibt es Phasen der Trauer - und ist sie überhaupt jemals zu Ende?
K. Schreier: Es gibt tatsächlich Phasen, aber da gibt es verschiedene Modelle und diese Phasen sind auch nicht in sich abgeschlossen. Allgemein kann man sagen, dass der anfänglichen Schockstarre und Verzweiflung meist die Zeit des Nicht-Wahrhaben-Wollens folgt. Dann kämpft man sich zu der Erkenntnis durch, dass das jetzt der Zustand ist, in dem man weiterleben wird.
Das sonst bekannte Trauerjahr gibt es bei Kindern so nicht. Nach einem Jahr ist man bei Weitem noch nicht an dem Punkt, dass man sagt: Ich arrangiere mich jetzt mit meinem Leben. Das dauert beim Verlust eines Kindes deutlich länger, da reden wir von mehreren Jahren. Es gibt Momente, da denkt man, man sei auf dem aufsteigenden Ast, und dann wirft es einen wieder böse zurück. Alltag wird es nie wieder geben. Der Tod des Kindes ist die Stunde Null und das Leben teilt sich in ein Vorher und ein Nachher. Helfen kann der Austausch mit Gleichbetroffenen. Zu merken: Ich bin nicht allein. Von anderen zu erfahren, was sie für Strategien entwickelt haben, um zu überleben.
Wie können Freunde helfen?
K. Schreier: Das ist sehr individuell. Anfangs wird erst mal nichts als wirkliche Hilfe wahrgenommen, denn nichts ändert ja etwas an der Existenz dieses furchtbaren Verlustes. Man kann Eltern auch nicht sagen, was sie tun sollen, denn sie müssen ganz bei sich sein und das auch dürfen. Aber ganz praktisch gibt es viele Möglichkeiten, zu helfen. Die Eltern brauchen Menschen, die jenseits von oberflächlichen Vertröstungen für sie da sind. Zum Reden, Zuhören, Schweigen und gemeinsamen Aushalten, zum Mit-Essen-Versorgen. Das kann ein Topf Suppe sein, den man vor die Tür stellt, wenn keiner aufmacht, oder ein zuverlässiger Telefon-Notfalldienst, der zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufbar und gesprächsbereit ist. (mit dpa)
"Freunde, die dableiben, sind ganz wichtig"